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Reisen im Kopf – Tunesien1980. Was für ein Trip! Physisch sollten wir heute nicht reisen, aber reisen im Kopf dürfen wir. Erinnerungen an Licht, Orte und Menschen blühen auf wie der Jasmin, dessen süßer, schwerer Duft mich drei Wochen lang begleitete.
Eine virtuelle Bekannte brachte mich darauf, als sie von den Reisen mit ihrer Familie nach Lateinamerika erzählte. Dort war ich nie. Dafür aber woanders. Das Woanders war in den 70ern, 80ern und Anfang der 90er Jahre noch recht unbeschwert und ohne Angst vor Terrorismus zu bereisen und zu erkunden. So erinnere ich das zumindest. Es kann aber auch an dem fest verankerten Glauben an das Gute liegen, dass meine Eltern ihr blond gelocktes Kind bis in die hinterletzten Winkel der nördlichen Sahara geschleppt haben.
Nahtoderfahrung auf dem Cousin von Black Beauty
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Ich durfte am Rande der Wüste alleine ausreiten. Da war ich dreizehn Jahre alt. Angesichts dieser vermeintlichen Verantwortungslosigkeit würden diverse Helikoptereltern heute ganz sicher Anzeige erstatten. Doch ich habe meinen Ausritt überlebt, obwohl mir der schwarze Gaul durchgegangen ist. Ich habe überlebt, obwohl er versucht hatte, mich am Stamm eines knorzigen Mandelbaum abzustreifen. Ich habe überlebt, obwohl ich nur Passagier war, als er mit mir im gestreckten Galopp durch ein Dorf donnerte. Heute weiß ich, dass das Pferd zwar einen miesen Charakter hatte, meine nur rudimentären Reitkünste allerdings ganz wesentlich zu meinem Höllenritt beigetragen haben.
Nach mehr als vier Stunden voller kleiner Nahtodterfahrungen brachte ich den schwarzen Wallach zu seinen Pflegern zurück und war stolz. Es war der abstruse Stolz einer Dreizehnjährigen, die der böse Cousin von Black Beauty nicht abwerfen konnte.
Später an der Hotelbar reichte mir ein Kellner eine Cola und druckste rum, ich hätte blutige Kratzer im Gesicht. An seinen besorgten Blick kann ich mich noch gut erinnern. Der Mandelbaum, dachte ich noch kurz. Dann wurde es dunkel. Offenbar war ich von meinem hochbeinigen Hocker gekippt und in tiefer Ohnmacht stumpf auf den kühlen Marmorboden geschlagen. Ich wachte erst wieder auf, als mein Vater mir mit einem kühlen Lappen das Gesicht wusch. „Du musst jetzt liegen bleiben.“ Der im Laufschritt zu unserem Zimmer geeilte Hotelarzt hatte recht schnell einen Sonnenstich diagnostiziert. Wer reitet schon in der Sahara ohne Hut? Ich damals. Und niemand fand das absonderlich.
Segeln ist wie Reiten, nur anders
Das alles begab sich allerdings erst nachdem mein Vater und ein britischer Banker, die Küstenwache in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatten. An einem von Cocktails und Jasminduft geschwängerten Abend hatten meine Eltern ein lustiges Ehepaar kennengelernt, das aus London angereist war. In ihrem Schlepptau befand sich ihre dauerhaft nölende Tochter, die gut zwei Jahre älter war als ich. Sie hatte ausschließlich Jungs im Kopf. Ich, wie für dieses Alter wohl typisch, nur die Pferde. Mein Vater und ihr Vater hingegen verstanden sich auf Anhieb blendend. Unter anderem kamen sie über das Segeln an sich und im besonderen derart ins Schwärmen, dass bald jeder vom anderen dachte, er sei ein Könner auf dem Wasser.
Der Beachclub, in dem wir wohnten lag in der Nähe des Städtchens Sousse und hatte schon damals alles zu bieten, was sich ein abenteuerlustiger Urlauber vorstellen kann. So auch Segelboote to rent. Am nächsten Morgen also stapften mein Vater und Rob der Banker über den Strand, mieteten sich ein kleines Segelboot und waren für die nächsten Stunden nicht mehr gesehen. Was konnte schon schief gehen? Der Golf von Hammamet ist schließlich nicht der Atlantik. Wie sich allerdings später herausstellen sollte, kann jedes Gewässer gefährlich sein, wenn zwei völlig ahnungslose Landratten leichthin versuchen, auf ihm herum zu schippern.
Reisen im Kopf – Hauptsache der Whisky ist gerettet!
Der kleine Segler verhielt sich im Grunde nicht anders als der böse Cousin von Black Beauty. Er schrie:“Was willst du von mir? Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Und so trieb er ganz ohne schlechte Absichten immer weiter auf das offene Wasser hinaus. Mit viel Glück wären Rob und mein Vater an der nordwestlichen Küste von Malta oder an den Stränden Siziliens gelandet. Doch angesichts der Tatsache, dass ihr Proviant nur aus einer Flasche Whiskys bestand, war der Einsatz der Küstenwache durchaus gerechtfertigt.
Frei von Sorgen, sicher, dass die Männer ihren Segelturn schon wuppen würden, saß meine Mutter indes mit Anne, der Bankersgattin, beim Cocktail im weitläufigen Garten des Beachclubs. Den Start des großen Rettungsschiffes verpassten sie ebenso wie den Aufruhr am Strand, als das Boot mit zwei völlig erschöpften und dehydrierten Europäern darin an Land geschleppt wurde. Immerhin hatte Rob den Whisky gerettet. Der Londoner Banker und der promovierte Kunsthistoriker aus dem Ruhrgebiet würden noch Jahre später kichernd wie Teenager von ihrem Abenteuer erzählen. Zwei Wochen zuvor allerdings sah es fast so aus, als würde es weder zu meinem Ausritt noch zu diesem legendären Segelausflug kommen.
Multipass – Einreisen auf die harte Tour
Am Flughafen von Monastir ließ man nämlich gerne meine Eltern ins Land, doch mich wollte niemand. Denn ich führte lediglich einen damals üblichen Kinderausweis aber keinen Reisepass mit mir. Der störrische Beamte wusste nicht wo er seinen Stempel hinsetzen sollte und war wild entschlossen, ein dreizehn Jahre altes Mädchen ohne Begleitung in die nächste Maschine zurück nach Düsseldorf zu setzen. Allein den guten Französischkenntnissen meiner Mutter war es zu verdanken, dass wir unter Auflagen schließlich doch nach Tunesien einreisen durften. Während der hitzigen Diskussion, in deren Verlauf ich fürchtete, meine Mutter könnte handgreiflich werden, unterhielt ich die wartenden Touristen, indem ich eine ganze Flasche Cola durch meine Kehle laufen ließ, ohne ein einziges Mal zu schlucken.
Die Beamten hatten meine Eltern verpflichtet, innerhalb der ersten Woche unseres Aufenthaltes bei der deutschen Botschaft in Tunis einen vorläufigen Reisepass für mich zu beantragen. Läppische 150 Kilometer liegen zwischen Sousse und Tunis, die man heute ganz sicher in zwei Stunden überbrücken kann. 1980 dauerte unsere Zugfahrt vier Stunden. Wir saßen Holzklasse in einem Wagon, der diese Tour vermutlich seit der Eröffnung des Sueskanals gefahren war. Es rumpelte, schlug und ratterte furchterregend. Offenbar waren die Ingenieure damals noch nicht in der Lage, Schienen in sanften Kurven zu legen. Bei Temperaturen um die 45 Grad fuhren wir in einem altersschwachen Zug um hunderte von Ecken und über Brücken, die lediglich aus Pfeilern und eben jenen alten Schienen bestanden. Mehrfach sah ich mich wahlweise verdurstet oder zerquetscht unter Tonnen von altem Stahl in einem ausgetrockneten Flussbett liegen. Ich hatte panische Angst.
Kulturschock bei 45 Grad
Als ich meine damals noch durchschnittlich kleinen Füße auf den Bahnsteig in Tunis setzte, wollte ich den Beton unter ihnen küssen. Ich ließ es, denn ich hätte mir ganz sicher Verbrennungen dritten Grades zugezogen. Die Hitze flimmerte vor meinen Augen. Aus einem Wagon am hinteren Ende des Zuges stieg recht ungelenk ein korpulenter Mann im weißen Leinenanzug. Er trug einen Strohhut und wedelte mit einem mit Silber beschlagenen Spazierstock, der auffällig in der Sonne glänzte. „Vite, vite vite!“, rief er laut. Auf sein Kommando quoll aus der schmalen Tür der ersten Klasse eine Schar von tief verschleierten Frauen. Jede von ihnen – es müssen mindestens sieben gewesen sein – trug zwei große Koffer von Louis Vuitton (ein Detail, das meine Mutter damals wahrnahm) und weiteres kleineres Gepäcks mit sich. Der Mann im weißen Anzug eilte mit trippeligen Schrittchen vor ihnen her. „Vite, vite, vite!“ Wie ein großer weißer und viel kleine schwarze Pinguine sahen sie aus, als sie in der Halle des Bahnhofs aus meinem Blickfeld verschwanden. So nimmt das wohl ein kleines Mädchen wahr, das gerade im Begriff ist, den größten Kulturschock seines Lebens zu erleiden.
Reisen im Kopf – Zitronenbäume und ein Huhn auf meinem Schoß
Die Pinguine bestiegen eine sehr lange Limousine, wir ein schäbiges Taxi, das uns möglichst schnell zur deutschen Botschaft bringen sollte. Doch auf etwa der halben Strecke brüllte mein Vater „Arrêtez!“. Seine Nerven hielten den lebensmüden Fahrstil des Chauffeurs nicht mehr aus. Also liefen wir die Avenue Habib Bourguiba hinunter bis meine Mutter vor dem Eingang des Carlton einen Sitzstreik anzettelte. Sie musste trinken und essen, sagte sie, aber eine Klimaanlage würde ihr zumindest erste Hilfe leisten.
Für uns drei hatte das Restaurant des Hotels fünf Kellner abgestellt. Mit weißen Handschuhen vollzogen sie ein Ballett, das ich in dieser Perfektion bis heute nur ein einziges Mal wieder gesehen habe. An das Menü selbst kann ich mich nicht erinnern. Allein die Lobreden meiner Eltern sind mir bis heute im Gedächtnis. Gesättigt und auf 20 Grad herunter gekühlt erreichten wir tatsächlich die Botschaft, die damals noch in einer wunderschönen kleinen Villa saß. Zitronenbäume beschatteten den Eingang. Alles ging reibungslos. Meine Eltern atmeten auf. Ich hatte Angst. Schließlich musste ich zurück in diesen Zug. Während wir völlig erschöpft und durchgeschwitzt zurück nach Sousse rumpelten, gab mir das Lächeln einer Sitznachbarin die nötige Sicherheit. Sie reichte mir ihr braunes Huhn auf den Schoß und schälte sich dann leise summend eine Apfelsine. Wenn sie schon ihr Huhn mit nimmt, dachte ich, kann es ja nicht so schlimm sein.
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Ich fahre gerne Zug. TGV, Thalys und ICE sind meine Hochgeschwindigkeitsfreunde. Doch manche Geräusche bringen mich auch heute noch zurück in die Wüste. Bei Tempo 220 wische ich manchmal kleine Schweißperlen von meiner Stirn. Aber nach unserem Trip nach Tunesien weiß ich, dass ich fast alles überleben kann.
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